Jugend

Die S4 habe ich rich­tig gern. Eine S‑Bahn der Verei­ni­gung; sie vervoll­stän­digt die Stadt. Von Halen­see, wo ich mit meiner Lebens­freun­din einsteige, sind wir schon am Trep­tower Park, ehe wir den Flug­ha­fen Tempel­hof hinrei­chend ins Weißt-du-noch einge­hüllt haben.
Vom frie­sen­blauen Bahn­steig herab und hinun­ter Rich­tung Hafen. Hafen — das ist so ein binnen­län­di­sches Wort für Anle­ge­stelle der Stern- und Kreis­schiff­fahrt. MS Monbi­jou, der Hafen­räu­che­rei gegen­über, ist bereit für eine Stunde “Hafen­rund­fahrt”; rund geht es eigent­lich nicht, ein Stück “talwärts”, bis Janno­witz­brü­cke und “berg­wärts” wieder bis Zenner: das Gebäude des Ufer­re­stau­rants war einst­mals von Lang­hans, der das Bran­den­bur­ger Tor gebaut hat: eine Ausflugs­stätte von fonta­ni­scher Tradi­tion, die einzige noch in Berlin. Laute Laut­spre­cher­mu­sik der 60er Jahre, unten am Hafen sogar von noch früher, die Liebe ist ein selt­sa­mes Spiel, wir wollen niemals ausein­an­der gehn; wir fühlen uns jugend­lich. Jugend. An Bord von MS Monbi­jou vier Paare, Alte. Die beiden Alten gegen­über bestel­len eine Flasche Rotwein: “Guck mal, ein altes Liebes­paar!” sagt meine Freun­din mit kundi­gem Blick: “Die sind beide mit andern verhei­ra­tet und haben sich lange nicht gese­hen”.
“46 Jahre bin ich mit der Frau verhei­ra­tet”, klagt der Mann. “Aber denkste, dat die gekomm’ is?”, dann: “Wie oft hab ick dit geträumt, wie ich im Kran­ken­haus laach, det die Tür uffjeht und du kamst rinn!” Später tref­fen wir sie bei Zenner wieder, wieder fassen sie sich an, küssen sich vorsich­tig, als ob was kaputt gehen könnte.

“Süß”, sagt meine Lebens­freun­din. Ihre Augen schwim­men. Als MS Monbi­jou an den weißen Neubau­ten auf Stra­lau vorbei­fährt, sagt die Nach­ba­rin träu­me­risch: “Guck mal, da drüben; in det weiße Haus, oben, det wär mein Traum: Niemand mehr über mir! Jede Nacht wach ich auf, bei mir, wenn oben die rumtram­peln (und wieder­holt mit leise­rer Stimme:) …niemand mehr über mir!” Am Ende des Steges, an dem MS Monbi­jou abge­legt hat und nun wieder anlegt, wassert das blau-gelbe schwe­di­sche Wasser­flug­zeug des Berli­ner Luft­ser­vices, Erwach­sene 149 Mark für eine halbe Stunde; es ist ziem­li­cher Betrieb; das Flug­zeug­chen fährt erst berg­wärts auf der Spree bis fast zur Insel der Jugend, wendet und nimmt star­ken Anlauf, rast auf die Elsen­brü­cke zu, vor der es recht­zei­tig abhebt auf Trep­tower-Hohe, 130 Meter, und entschwin­det in einem elegan­ten Bogen nord­wärts, und dann dauert es gar nicht mehr lange, bis es von Osten wieder herun­ter schwebt; aber schwe­ben ist ein zu leises Wort: “Was! Sie sind schon wieder da! Für 150 Mark? Dafür kannste doch bis Frank­furt flie­gen. (Nach­denk­lich:) Ande­rer­seits, was willste in Frank­furt? Im Gegen­teil. Hier biste wenigs­tens gleich zu Hause. Wolln wir auch mal flie­gen?”
Während wir die Prome­nade auf die Insel der Jugend zuge­hen, ist das Flug­zeug jeden­falls eine gute Unter­hal­tung für uns. Immer­grün, Veil­chen am Wege, kleine japa­ni­sche Kirschen und wilde Birnen, Sträu­cher, blau­blü­hende Stern­hya­zin­then. Die Kasta­nie am Hafen­ein­gang hat schon ein leuch­ten­des jung­grü­nes Blatt hervor­ge­bracht, die Knos­pen fangen an, dick und süß auszu­se­hen. Die Spree­pro­me­nade vom Hafen zur Insel der Jugend ist volks­tüm­lich. Der Park ist ein Volks­park, nach dem 70er Krieg von Meyer fürs Volk ange­leht, alter Versamm­lungs­ort der Arbei­ter­be­we­gung. Bebel hat hier gespro­chen, dort hinten auf der Wiese, vor Tausen­den, Aber­tau­sen­den. Eine melan­cho­li­sche Erin­ne­rung, denn es hat alles nichts genützt. “Wieso hat es nichts genützt? Guck doch, wie fried­lich hier alle lang­ge­hen, sobald ein biss­chen Früh­ling ist”. Geschichte ist Geschichts­klit­te­rung. Es gibt über­haupt keine Geschichte, die nicht lügt. Auf manche Lügen verstän­digt man sich, das heißt: Objek­ti­vi­tät.
Die Brücke zur Insel der Jugend, die früher Abtei-Insel hieß, zeigt auffor­dern­den Schwung, man muss hinüber, voller Erwar­tun­gen, was kommt?
Wie die Jugend: vorwärts mit Erwar­tun­gen, immer kommt was, bis man plötz­lich merkt: Es ist schon vorbei, man hat gerade nicht hinge­guckt, oder es ist gar nicht gekom­men. Auch auf dieser nach der Jugend benann­ten Insel kommt demge­mäß nicht viel. Erst der burg­ar­tige Beginn einer Jugend­frei­zeit­ein­rich­tung, “Insel­cafe”, naja. Als Liesel hinten durch das Tor des “Jugend­frei­zeit­hei­mes Ernst Zinna” geht, rufen ihr drei heran­kom­mende Jung­frauen zu: “Halt, junge Frau. Dit is privat! Verlas­sen Sie sofort das Gelände der Einrich­tung!” Erst denke ich, dass sie’s DDR-ironisch meinen, aber dann meinen sie’s ernst: Verlas­sen Sie sofort das Gebiet der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik. “Mensch”, sagt Liesel, “das ham wir ja lange nicht gehört”, als ob sie eine Geschichts­stunde hinter sich hätte, mit neuen Erkennt­nis­sen. Von der Achter­bahn im Plän­ter­wald klin­gen das Juch­zen und die Schreie herüber, wenn die Mägen im plötz­li­chen Absturz der Wägel­chen aufge­ho­ben werden und gegen die Herzen stoßen.

Die untere Etage im Haus Zenner, bei dem wir nun zurück sind, ist McDo­nalds oder Burger King, ich hab nicht so genau hinge­se­hen: jeden­falls ein echter Quali­täts­sprung; diese Burger-Statio­nen, denken wir, bedeu­ten doch wirk­lich eine Verbes­se­rung der Lebens­qua­li­tät, sie leis­ten viel für die knap­pen Beutel. Wo Burger King ist, ist Demo­kra­tie. “Naja, das ist wohl ein biss­chen über­trie­ben”, sagt Liesel. “Versuch nicht, grund­sätz­lich zu sein; Amerika hat zwar unter­des­sen die älteste demo­kra­ti­sche Verfas­sung der Erde, aber die USA ist nicht iden­tisch mit Demo­kra­tie…”, obwohl — um ehrlich zu sein — wenn ich flie­hen müsste von hier, würde ich versu­chen, dort hin zu kommen, meinet­we­gen nach Vermont, wie es aussieht wie in Osthol­stein, bloß größer, oder nach Kali­for­nien, wo immer die Sonne scheint, oder nach Brook­lyn, da ist’s wie in Kreuz­berg, nur noch’n biss­chen schär­fer.
Bei dieser Rede sitzen wir aber nicht unten bei Burger King, sondern oben, in der Eier­schale, wo wir — wie gesagt — auch unser Rotwein­paar wieder­tra­fen. Hinter uns hängt ein Bild von Audrey Hepb­urn als junge Frau, fast anorek­tisch.
Die Eier­schale am Brei­ten­bach­platz, nachts landete ich aus Frei­burg, wo ich Asta-Mitglied war, in Tempel­hof, als es noch Nacht­flüge nach West­ber­lin gab, und sofort in die Eier­schale. In den 50er Jahren empfan­den wir die Eier­schale als eine Kultur­ein­rich­tung.

Dann gingen wir zum Sowje­ti­schen Ehren­mal hinüber. Darüber habe ich hier schon mehr­fach geschrie­ben (und bei manchen Lesern Ärger erzeugt; denen will ich gar nicht erzäh­len, wie die Reak­tion meiner Lebens­freun­din ausfiel. Für sie ist Kriegs­to­ten­ver­denk­ma­lung Kriegs­ver­herr­li­chung.) “Dahin­ten hat Fried­rich Ebert gewohnt”, sage ich ablen­kend.
“Ach, Ebert!” Sie zuckt mit den Achseln. Ach, unsere müden Augen, die noch immer unent­wegt begie­rig nach etwas Leben Ausschau halten, das, noch während es erhofft wird, dahin ist, zerron­nen, in einem Seuf­zen, in einem Nu, wie die Jugend, mit ihrer Kraft, mit ihren Illu­sio­nen und ihrer Schwär­me­rei. Mit dem Stadt­bus 104 fahren wir in 45 Minu­ten nach Wilmers­dorf. Wir haben den Eindruck, durch die Welt gereist zu sein.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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Berlin

Das Ende des Regensbogens

West-Berlin, Ende der 70er Jahre. Der junge Stri­cher Jimmi lebt auf der Straße, mit klei­nen Dieb­stäh­len und Über­fäl­len kommt er über die Runden, bis er eines Tages von einer Studen­­ten-WG aufge­nom­men wird. Dort bekommt er […]

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