Iss nich

Das Wetter war so schön; es war zwar kalt, sagte Manfred Jagusch, der Foto­graf, aber der Himmel über der Spree war blau, die alten Gebäude stan­den da wie eine Ritter­burg, aus der die Ritter ausge­zo­gen sind. Das war am Frei­tag; als ich am Montag die Nale­pa­straße entlang ging, hatte es am Sonn­tag­abend geschneit, gegen Mittag hatte der Schnee seine Weiße verlo­ren, die Wege durch die Kolo­nie Wilhelm­strand einge­schwärzt und ober­fläch­lich moras­tet.
Über die Nale­pa­straße kann ich — ein Wessi — nun auch schon verschie­dene Geschich­ten schrei­ben; zwei­mal in DDR-Zeiten habe ich an dem gut bewach­ten Tor gestan­den und bin nicht einge­las­sen worden, “aus grund­sätz­li­chen Erwä­gun­gen” hieß es; später habe ich hier mit Über­gangs­chefs gespro­chen und Gesprä­che geführt, von denen ich heute nicht mehr weiß, in wessen Auftrag, noch weni­ger: zu wessen Nutzen.

Als ich gestern an der Halte­stelle des 196ers stand, der nur phasen­weise fährt, Auto an Auto über die schnee­nasse Rummels­bur­ger Straße an mir vorüber­bret­terte und ich den fein­nas­sen Stra­ßen­dreck bis an die Wangen (Wangen!) zu spüren meinte, die stol­zen Indus­trie­rui­nen an der Stra­ßen­bau­stelle betrach­tend und gegen­über die wilden Birken, die in den novem­bri­gen Janu­ar­tag einen Hauch von Traum­land brach­ten, konnte ich mir sagen: Hier, wo ich als unbe­au­to­ter Mensch jetzt ganz allein bin, bin ich auch noch nie gewe­sen.
“Kann ich die Nale­pa­straße hier durch­gehn?” frage ich den IHS-Portier.
“Nee, schon seit 1957 nich mehr.”
“War aber dahin­ten zur Kolo­nie nicht ein Eingang?”
“Ja, wenn Sie berech­tigt warn!”
“Aber nach­dem die Vergan­gen­heit nun vorbei ist”, versu­che ich schüch­tern einzu­wen­den, …
“Seit­dem ist das Tor ganz zu, für Berech­tigte und für Unbe­rech­tigte!”
Die Antwort erscheint ihm selbst schroff, deshalb fügt er an: “Pfört­ner­haus iss nich besetzt. Kommt ja auch niemand. Früher…”

Früher, als hier der Rund­funk der DDR domi­zi­lierte, Haus A, B, C usw., Sendun­gen von fast tausend­sie­ben­hun­dert Wochen­stun­den, ein Langwellen‑, einund­drei­ßig Mittelwellen‑, neun­und­sech­zig Ukw‑, zehn Kurz­wel­len­sen­der … davon sieht man nicht mehr viel.
“Das Hörn­chen würde ich gerne mal besich­ti­gen.” Den Ausdruck kennt der Portier. Unsere freund­li­che Sekre­tä­rin, die früher hier gear­bei­tet hat, kennt ihn nicht. Noch früher stand hier eine Furnier­fa­brik.
Der Archi­tekt des Rund­funk­zen­trums hieß Franz Ehrlich. Das Gebäude entstand 1951 bis 1955. Der Produk­ti­ons­be­reich steht abge­rückt vom Haupt­kom­plex auf eige­nen Funda­men­ten, zwischen beiden Gebäu­de­tei­len eine geschwun­gene Verbin­dung: eben das Hörn­chen; im Archi­tek­tur­buch heißt es: “Da Aufnah­me­räume nach den Geset­zen der geome­tri­schen Akus­tik nicht rekt­an­gu­lär, sondern für Musik­auf­nah­men trapez­för­mig, für Hörspiele poly­go­nal sein soll­ten, bot sich die Möglich­keit, sie zu einem Vier­tel­kreis zu reihen und mit ihnen den Baukör­per herab­zu­stu­fen.”
Das sind Ausdrü­cke! Super! Geil! Heute will wohl niemand mehr Hörspiele hören, die poly­go­na­len und trapez­för­mi­gen Räume sind über­flüs­sig gewor­den, die Unter­hal­tung wird anders­wo­her gelie­fert, das Hörn­chen ist baufäl­lig, aus den Mauern wach­sen die Gewächse, die rot-weißen Flat­ter­bän­der flat­tern. Ich gehe den Weg 1 zwischen gepfleg­ten und weni­ger gepfleg­ten Datschen — oder sagt man heute auch nicht mehr “Datschen”? — Bunga­lows? Der Weg endet auf der Nale­pa­straße, wo auch sie endet, dort verfällt das Pfört­ner­häus­chen, das dafür da war, dass der Eingang hier offen war für solche, die berech­tigt waren. Alle Berech­ti­gun­gen sind erlo­schen. Die Einrich­tung ist platt gemacht. Wurde nicht mehr gebraucht. Manch­mal versam­melt sich hinten ein Chor und holt ein Stück aus der Vergan­gen­heit, Hinde­mith, Das Unauf­hör­li­che, hörte ich zum Beispiel von hier, Text vom Haut- und Geschlechts­arzt Benn aus der Belle-Alli­ance-Straße, damals, “Gefilde, Säume des Meers, / die alles trugen: Öl und Herden, / Sieben­flö­ten, helles Gestein, / bis ihnen das Herz brach.”
Nee, am gebro­che­nen Herzen ist der Rund­funk der DDR nicht gestor­ben. Er ist verwan­delt worden in einen ande­ren Erin­ne­rungs­zu­stand. Es gibt die einen, die hier einen Teil ihres Lebens verbracht haben, viel­leicht ihre Jugend, mit Liebe und Liebes­ver­such, und die ande­ren, die auf die Ereig­nisse verwie­sen waren, zum Teil gute und erin­ne­rungs­wür­dige, zum Teil solche, die man dadurch ehrt, dass man sie schnell vergisst. Am Ende, meint Jagusch, war alles Anar­chie, sogar Meute­rei, aber sie haben gedacht: Das ist die Demo­kra­tie; man hat eben versucht, sich zu plat­zie­ren, manche haben einen Platz gekriegt und hüpfen weiter volks­päd­ago­gisch oder werb­lich, je nach Anfor­de­rung, über die runden Wellen, für andere ist nicht nur dieses Tor zu, sondern so ziem­lich alle Tore.

Die Nale­pa­straße ist Straße und Nicht­straße, vom verschlos­se­nen Tor, hinter dem es doch — manch­mal und für manche — weit in die Welt ging, zieht sie sich symbo­lisch entlang, anfangs zur Hälfte schwar­zer Erdweg, zur Hälfte schwe­rer Pflas­ter­steig, rechts und links die Klein­gär­ten, oben die Krähen, die sich hitch­co­ckig sammeln auf den äußers­ten Hoch­span­nungs­mas­ten. Sie krähen mich an, sie segeln auf mich zu und sind viel größer, als sie sind. Am Weg Nummer 7 könnte ich nach rechts zur BVG-Fähre abbie­gen, “aber ob die fährt?”, hatte der IHS-Mann gesagt, “gestern war noch Eis.”
Wie diese nach Nalepa, dem Färbe­rei­be­sit­zer und Teppich­fa­bri­kan­ten aus dem 19. Jahr­hun­dert, haben auch andere Stra­ßen hier heimat­kund­li­che Bezeich­nung: nach Tabbert zum Beispiel, andere marty­ro­lo­gi­sche: Otto Krüger, Fritz Kirsch, einige Stra­ßen — warum das? — heißen nach histo­ri­schen Buch­dru­ckern: Mentelin, Fust, und hinten die Stra­ßen nach Tech­nik­hei­li­gen: Watt, Edison, Siemens. Die Brücke, die behelfs­mä­ßig über die Spree führt, heißt nach dem Teltower Land­rat Stuben­rauch, nach dem viel heißt in Berlin, als ob die Teil­ver­ei­ni­gung von Berlin und dem Land­kreis Teltow eine beson­dere Helden­tat gewe­sen wäre.
Am Ende der Stuben­rauch­brü­cke finde ich an der Schnel­ler­straße eine Halte­stelle des 167ers, der mich durch klas­sischs­tes Trep­tow in klas­sischs­tes Neukölln fährt: U‑Bahnhof Hermann­platz; sieben Minu­ten mit der U7 zur Möckern­brü­cke, klas­sischs­tes Kreuz­berg, nicht weit von unse­rer Redak­tion, wo ich nach einem passen­den Schluss­satz zu diesem Text suche, der zusam­men­bin­den wollte, was rechts dahin­ten liegt, in jener duns­t’­gen Weite, und hier … nee, nee, Lyrik iss nich.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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