Am Wald und am Wasser, am Rande

Ab Pichels­berg habe ich das Gefühl, es geht hinaus. Ich denke an die Vergan­gen­heit, also die Jugend. In meiner Jugend fuhr ich gele­gent­lich mit der S‑Bahn nach Span­dau. Jetzt fährt die S‑Bahn wieder nach Span­dau. Unter­des­sen bin ich alt. Ist Berlin auch geal­tert wie ich? Heute ist es das erste Mal, dass ich mit der wieder eröff­ne­ten S‑Bahn bis Span­dau fahre. “Mit der S‑Bahn bis Olym­pia­sta­dion”, sagte mein Vater, Punkt, Punkt, Punkt: Mehr sagte er meis­tens nicht, aber ich hatte das Gefühl, der Satz lautete weiter: “…das war Berlin. Das war die Groß­stadt, die Welt. Wir hatten das Gefühl, wir waren, wo die Welt war.” Ach, das war 1936, Olym­pi­sche Spiele, hier sind meine Eltern ausge­stie­gen, um Jesse Owens siegen zu sehen; sie müssen sich nach­träg­lich nicht sagen lassen, sie seien gekom­men, um Adolf Hitler mit deut­schem Gruß zu grüßen…
Vorbei; die S‑Bahn ist schon in Stre­sow; dann in Span­dau, im neuen Bahn­hof, der so groß ist, dass Span­dau sich für die Unkun­di­gen, die zehn Jahre zu spät kommen, auch als Berlin selbst ausge­ben könnte.

Nun noch eine Vier­tel­stunde mit dem 231er bis Wichern­straße. Die kleine Fach­werks­ka­pelle, die hier nach ihm heißt, kam 1932 vom Rohr­damm, wo sie geist­li­che Inte­rims­funk­tio­nen wahr­ge­nom­men hatte; seit das Johan­nes­stift hinten im Wald liegt, gibt es diese Straße; Wichern ist der Grün­der des Johanns­stif­tes; er wird seiner sozia­len Taten wegen viel gelobt; ideo­lo­gisch war er aber ein tief­ge­hen­des Schiff, wenn man sagen darf: “Innere Mission unter den deut­schen Protes­tan­ten, Feld­dia­ko­nie” und Aufsicht über das staat­li­che Gefäng­nis­we­sen: Wie er das in einem Gedan­ken­ge­bäude verei­ni­gen konnte, das macht heute in den Texten des Gottes­man­nes beklom­me­ner, als man über die Sache wohl sein muss: Zum Beispiel, wenn man — auch nur flüch­tig — das Gefäng­nis betrach­tet, das die Wald­sied­lung, die seit Jahr­hun­dert­be­ginn hier beginnt, heute zur Nieder­neu­en­dor­fer Allee abschließt, dass zwischen grünen Draht­git­ter­zäu­nen nur ein schma­ler Durch­gang bleibt: Justiz­voll­zugs­an­stalt Haken­felde, man verbirgt das lange Wort am besten unter der Abkür­zung JVA; ehe man bescheid weiß, kann man das Pult­dach-Ensem­ble auch für ein Jugend­dorf halten oder sogar selbst für eine Wald­ko­lo­nie.

Span­dau ist die Stadt der Stadt­teile, der Kieze; Span­dau hat seine origi­nelle Altstadt. Ich habe meine Jugend in Lübeck verbracht. In Span­dau, in Rathaus­nähe, fühle ich mich immer heimisch und immer ein biss­chen nach Weih­nachts­markt. Aber unter dem Ober­be­griff Span­dau bestehen auch einige ganz eigene Quar­tiere, die ebenso gut eigene Privat-Gemein­den sein könn­ten. In den Büchern berühmt ist zum Beispiel die Garten­stadt Staa­ken; Schmit­t­hen­ner hieß der Archi­tekt: fast der Proto­typ eines deut­schen Archi­tek­ten in der ersten Jahr­hun­dert­hälfte, Nazi und Nicht­nazi, Täter und Opfer: alles in einem, einer dieser ideo­lo­gi­schen Kunst­rei­ter, deren Kurz­bio­gra­phien sie viel zwei­fel­haf­ter erschei­nen lassen, als man sie viel­leicht heute auffas­sen darf. Darüber könnte man Bücher schrei­ben. Lieber nicht. Die Wald­sied­lung Haken­felde hier kann man genauso gut als Beispiel nehmen: Ein Klos­ter und eine Sied­lung drum herum. … Nein, so kann man das natür­lich nicht beschrei­ben. Die Bewoh­ner der Wald­sied­lung werden gewiss niemals den Eindruck gehabt haben, das Ledi­gen­heim, heute Senio­ren-Resi­denz, im Fich­ten­weg mit ange­schlos­se­nem empor ragen­den Gottes­haus sei ein Klos­ter und die Häuser und Häus­chen drum­herum die Kolo­nis­ten­stel­len im Heiden­land. Aber immer­hin hat es in den 20er Jahren, nach dem großen Welten­mor­den, eine Kirchen­bau­be­we­gung — aber Bewe­gung sollte man wohl nicht sagen — gege­ben, die ans Klös­ter­li­che anknüp­fen wollte. In diesen Zusam­men­hang gehört auch St. Elisa­beth am Fich­ten­weg, 1928 gebaut. Das Garten­tor vor der Kirche ist geschlos­sen, man kommt dem Gottes­haus nicht mal bis zu den Anschlä­gen nahe. Und bedau­ert es nicht sehr.
Die Sied­lungs­häus­chen haben damit nichts zu tun. Womit haben sie zu tun? Welcher städ­ti­schen Ideo­lo­gie gehö­ren sie an? Ach, das sind längst keine inter­es­san­ten Fragen mehr. Unter­des­sen werden die Stra­ßen für die Autos viel­leicht als unbe­quem schmal empfun­den von diesem und jenem, während der eine oder andere viel­leicht gerade die Enge und Stra­ßen­wink­lig­keit der Anlage als ihren ange­nehms­ten Vorteil empfin­det.

Ehe ich den Weg an der JVA durch den Wald gefun­den habe, dachte ich schon in dem star­ren Draht­git­ter entlang zurück­lau­fen und die Sied­lung tatsäch­lich an der selben Stelle verlas­sen zu müssen, an der ich sie betre­ten hatte: ein geschlos­se­nes Nach­bar­schafts-Ensem­ble. Aber nun bin ich doch ganz schnell am Bertrich­ter Weg, einer Klein­gar­ten-Anlage, Wochen­end-Sied­lung, heißt es, die mit goti­schen Lettern am Stra­ßen­schild alter­tü­melt. Die Attrak­tion der Gegend sind jedoch die 90er-Jahre-Neubau­ten am Aale­mann­ufer. “Wasser­stadt” heißt der Ausdruck, aber dem Frem­den fällt zuerst der Zaun auf, der die Neubau­ten von dem Ufer trennt, nach dem sie zusam­men­fas­send benannt sind. Ich denke mir, dass hier schön wohnen ist. Aber unter welchen Kate­go­rien? Wie die Wald­sied­lung ist auch die Wasser­stadt eine eigene Kommu­ni­tät: Stadt (oder Dorf?) am Rand der Stadt … Indes­sen: So randig ist es gar nicht; sieb­zehn Minu­ten mit dem 331er bis Span­dau Mitte. Sechs Leute stei­gen am Aale­mann­ufer ein, bei der 3. Halte­stelle ist der Bus schon fast voll, bald drän­gen sich die Leute.
“Ach, Uschi, ich wollte erst letzte Woche bei Dir anru­fen, aber dadurch, dass es so schlech­tes Wetter war, hab ich doch nich ange­ru­fen.”
“Obwohl gerade deswe­gen, weil man nich raus­kommt, man gerne tele­fo­niert.”
“Genau! Dacht ich auch, bin aber irgend­wie nicht dazu gekom­men; je weni­ger man zu tun hat, desto weni­ger schafft man!”
“Nächs­tes Mal denn … Tschühüss!” Das einge­scho­bene H, die Stimm­he­bung im Verab­schie­dungs-Gruß, das zeigt die gute Stim­mung: Tschü-hüs. Rathaus Span­dau, U- und S‑Bahn, steige ich auch aus: Wie gesagt, eine Vier­tel­stunde nur von der Jahr­hun­dertend-Sied­lung, am Wald und bei den Aalen, an die man nicht ran kommt und die es wohl gar nicht mehr gibt: Die Namen bedeu­ten gar nicht, was sie bedeu­ten.
Auf dem Bahn­steig viele Poli­zis­ten; mit ihren Panzer­käp­pis sähen sie entschlos­sen aus, wenn sie nicht so lässig hin- und her schlen­der­ten und so freund­lich alle Fragen beant­wor­te­ten. Hertha spielt im Olym­pia­sta­dion.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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