Wer hier draußen — aber über dieses “draußen” sind noch Betrachtungen anzustellen — am Mariendorfer Damm und an der Marienfelder Chaussee wohnt, der weiß ja sowieso, wie Berlin hier aussieht und welchen Charakter es macht. Für welche Erwartungen und Stadterkenntnisse empfehle ich den anderen den Weg hier heraus? Wer nicht in Hellersdorf war und in Marzahn, am Fennpfuhl und in der Gropiusstadt, der weiß nicht, wie Berlin ist. Habe ich neulich geschrieben. In diese Liste gehört auch Buckow. Nicht irgendwie und auch noch, sondern mit einer ganz speziellen Eigenart … Eigenart ist da schon ein Wort, das Kommentar braucht.
Als wir am Asbest-/Ecke Quarzweg beim Kroaten sitzen, sagt Mehdi, der mich heute begleitet: “Wie in Los Angeles.” Los Angeles, die Patenstadt Berlins, ist so eine Stadt: Man ist schon mittendrin und hat gar nicht gemerkt, dass sie anfängt, sie fängt nicht an, hört nicht auf, überall ist Los Angeles auch nicht Losangeles. Neukölln ist die Hauptstadt von Berlin, habe ich hier mal drucken lassen. Damit habe ich Rixdorf gemeint, die dichte Häuseransiedlung aus dem [vor]vorigen Jahrhundert, die von der Sonnenallee über die Karl-Marx-Straße sich zur Hermannstraße hinaufzieht und hinter ihren geschlossenen Fassaden Geschichte zusammenzuhalten scheint. Wenn wir — was ich eigentlich vorhatte — von dorther hierher nach Buckow gekommen wären, über Gropiusstadt und Alt-Buckow, dann hätten wir eine Stadterkundung über die Verschiedenheiten allein Neuköllns unternommen. Nicht mal Neukölln ist unter einem einzigen Neuköllner Eindruck zu erfassen. Ganz Berlin erst recht nicht. Berlin ist längst nicht eine Stadt der geschlossenen Fassaden, des 19. Jahrhunderts, der Arbeiter- und der Villenviertel des späten Kapitalismus. Wer dagegen das Berlin der sozialen Marktwirtschaft — kann man das sagen? — sucht, wird vielleicht finden, dass es aus den Kleingärten hervorgewachsen ist: das Berlin des Eigentums für alle; wenn natürlich auch um dieses alle Anführungszeichen gehören.
Die Städtebauer rümpfen darüber die Nase, Kleinhäuschenquartiere, Kleingartenlandschaften, das verräterische Wort “Stadtlandschaft” entsteht hier, und wer sagt, Stadt ist Stadt und Landschaft ist Landschaft, der weiß hier am Quarzweg gar nicht, ob er überhaupt in einer Stadt ist oder am Rande von Straßen, über die die Menschen irgendwohin fahren. Und sowie der Abend niedergesunken ist, ist hier gar nichts. Nur noch Fernsehen.
In allen großen Städten wird aber in Deutschland der Traum vom “Eigentum im Grünen” geträumt. Wer den erfunden und so vielen von uns so tief eingesenkt hat, was das für einer gewesen ist, ist nicht entschlüsselt; auf jeden Fall einer, der in Gegensätzen dachte: Stadt hat manchmal einen geheimen Widerwillen gegen sich selbst. Die protzigen Grunewaldvillen sind auch nichts anderes als ein Ausdruck davon. Die großen Bankkonten machen den Grunewald, die Beamtenheimstättenwerke und die Wüstenrots Buckow … Nein, nein, ich will nicht geistreich sein, keine Bonmots, aber es bleibt dabei: das Areal zwischen Tauernallee, Quarzweg und Marienfelder Chaussee ist ein typisches Stück Berlin. Wer Berlin sehen will, wie es wirklich ist, und nicht nur wie es sich baedekert, der guckt auch hierher. Viel Zeit kostet ihn das nicht, weil Berlin — sein großstädtischstes Merkmal — so schnell ist.
Wie ich heute kann dieser Besucher an einer Berliner U‑Bahn-Zentrallinie, der U1, am Hochschulbahnhof Dahlem-Dorf etwa (15 Minuten vom Wittenbergplatz), den Schnellbus X11 nehmen; der braucht zur Haltestelle Quarzweg in einer kleinen südberliner Querschnittsfahrt durch Dahlem, Lichterfelde, ein Stück Tempelhof, eine knappe halbe Stunde. Den Quarzweg aufwärts gehend denkt der Stadtgänger dann vielleicht: Es sieht hier aus wie überall, es sind eben die Häuser der langsam zu allgemeinem Wohlstand kommenden Bundesrepublik, die hier rechts und links stehen, wie in Lüdenscheid und Werdohl auch, die keine Geschichte mehr ausdrücken, weil wir die Allgemeingeschichte hinter uns haben und uns nur noch für die eigene Geschichte, Gott sei Dank, nur noch für unser eigenes Leben interessieren, in dem — wie gesagt — das Fernsehen die Erlebnisschichten einteilt.
Bedeutet demgegenüber die Parksiedlung Spruch, die wir nun über den Asbestweg erreichen, etwas bemerkenswert Besonderes?
Ob man überhaupt “Siedlung” sagen soll, ist schnell zweifelhaft. Der Kalksteinweg ist eine ganz typische Gegend mit Eigengärten und kleinen Häusern, aber die parallele, mit ihm zu einem elliptischen Rondell verbundene “Parkstraße Spruch” ist überraschend anders. Keine Kleinhäuser, sondern viergeschossige, weiß verputzte Kuben, die mit variierenden Balkonen, Wintergärten, Anbauten und Rücksprüngen gegeneinander gestellt sind, um insgesamt neun Höfe, die von sich gegenseitig erweiternden und ergänzenden Hausgärten ausgefüllt sind, über die venezianische Holzbrücken führen. “Befahren der Höfe verboten.” Elegante Farben, ohne Anleihe bei Taut, sondern von einer eigenen Zurückhaltung mit einigen violetten Auffälligkeiten. Engel und Zillich heißen die Architekten, Oskar Putz der Farbgeber. Was sie hier gebaut haben, steht in den Büchern als ein Beispiel; “urbane Verdichtung und vorstädtisch lockere Bebauung”, nicht postmodern, sondern modern, Le Corbusier, der Ideenbereiter, auf den in Berlin auch das große Scheibenhaus am Olympiastadion zurückgeht, ist hier zitiert: eine Siedlung in der Nähe von Bordeaux, aus den 1920er Jahren. Aber das müssen wir nicht wissen. Wir bleiben bei dem, was wir sehen.
Ich gehe langsam im vollen Sonnenlicht durch die noch recht baumlose Straße. Die Tiefgarageneinfahrten führen direkt von der Straße ab und herauf. Die Gegend wirkt sehr privat, man erkennt den hier nicht Hergehörigen gleich. Das “Kann ich Ihnen helfen?” klingt wie: “Dürfen Sie das?”, erzählt Jagusch, der Fotograf. Hausmeister sind überall. “Reiten verboten”, Hundeverbot, steht am Spielplatz, nur das Hundeverbot ist ins Türkische übersetzt (ich will ehrlich sein: Ein Stückchen weiter werden auch den Türken Pferde zugetraut, aber ich sehe weder deutsche noch türkische Reiter). Am Spielplatz hat das Bezirksamt angeschrieben, was es — wahrscheinlich auf Weisung seines Rechtsamtes — überall an solchen Orten anschreibt: “Die Spielgeräte dürfen nur von Kindern bis 15 Jahre mit Zustimmung oder unter Aufsicht der Erziehungsberechtigten benutzt werden.” Das knallende Rot an den “Spielgeräten” passt nicht in das Farbkonzept von Oskar Putz, an dieses behördliche Knallrot hatte er nicht rechtzeitig gedacht.
Es ist eine Kleinstadt in der Metropole. Die Gäste vorne im Bistro der beiden Kroaten wohnen — bilde ich mir ein — nicht in der neuen Spruchsiedlung. Es ist Freitagnachmittag, die Arbeit ist getan, oder es sind überhaupt Rentner, die sich jetzt ein Essen bestellen, das Mittag und Abendbrot zusammenfasst. Es herrscht eine nachbarschaftliche Atmosphäre. Auf dem Quarzweg fahren die Autos ununterbrochen hin und her. Stadt ist: wie Inseln an großen Flüssen. Bis auf die, die schmale Aktentaschen tragen, aber davon sehen wir nur zwei, sehen die Deutschen hier amerikanisch aus. Los Angeles, hatte Mehdi gesagt, der sich jetzt eine russische Borschtschsuppe bestellt. Das hier könnte auch eine US-amerikanische suburb sein. Buckow ist international. Man braucht — wie gesagt — eine halbe Stunde, um es mit dem Kudamm zu vergleichen. Aber es geht gar nicht ums Vergleichen. Sondern für den, der die Stadt erkennen will, wie sie ist, ums Sehen und ums Zusammenfassen.
Schreibe den ersten Kommentar