Ein Schultag mit Folgen

Mitte der Sieb­zi­ger Jahre wehte ein beson­de­rer Wind durch die Schu­len West-Berlins. Die 68er-Revolte hatten wir höchs­tens als Kinder am Fern­se­hen verfolgt, “die Studen­ten” wurden uns als Feind­bil­der präsen­tiert. Mein Vater, ein Beam­ter, tat seinen Teil dazu, um uns Kindern diese Sicht­weise einzu­trich­tern. Mir blie­ben vor allem die langen Haare der Revol­tie­ren­den im Gedächt­nis und das Gefühl von Faszi­na­tion.
Nur wenige Jahre später wuch­sen die Haare auch an vielen Jungen-Köpfen. Sie gehör­ten jetzt dazu, die Ohren verdeckt, das Geme­cker der Alten ließ nicht lange auf sich warten. Die Studen­ten waren weiter­hin eine Gene­ra­tion vor uns, wir hatten mit ihnen nicht viel gemein. Die ersten von ihnen wurden nun unsere Lehrer und sie gaben sich wirk­lich Mühe. Während die alten uns im Erdkunde-Unter­richt Flüsse und Boden­schätze pauken ließen, über­setz­ten die jungen Lehrer mit uns im Englisch-Unter­richt die Texte der Beat­les und der Rolling Stones. Die Tische der Schü­ler wurden umge­stellt, zu klei­nen “Inseln” grup­piert, nicht mehr nur mit dem Blick gera­de­aus.
Man erhielt immer noch eine Eintra­gung ins Klas­sen­buch, wenn man mal wieder den Unter­richt geschwänzt hatte, der Unter­schied war aber, dass sich der Lehrer für die Gründe des Wegblei­bens inter­es­sierte. Aber bei unse­rem Klas­sen­be­wusst­sein (Schü­ler gegen Lehrer) hatte er keine Chance.

Eines Tages erzählte unser Klas­sen­leh­rer, dass ein ande­rer sehr belieb­ter Kollege von ihm aus der Schule entlas­sen wurde. Ich kannte ihn nur flüch­tig, weil er mal eine Vertre­tungs­stunde bei uns hatte. Aber er war wirk­lich sympa­thisch. Voll­bart, lange Haare und immer freund­lich. Und anschei­nend Kommu­nist, das war jeden­falls die Begrün­dung für seinen Raus­wurf. Natür­lich wuss­ten wir nicht, was das bedeu­tete, obwohl es bereits einige Schü­ler gab, die sich “schon aus poli­ti­schen Grün­den” sehr für ihn einsetz­ten. Sie verteil­ten auch manch­mal Flug­blät­ter, die wir dann unge­le­sen zu Papier­flie­gern verar­bei­te­ten.
Die Entlas­sung des Lehrers zog aller­dings weitere Kreise, als es sich das Schul­amt vorher gedacht hatte. Eines Tages kam unser Klas­sen­leh­rer zu uns und berich­tete, dass es morgen eine Demons­tra­tion gegen die Entlas­sung geben würde. Es sollte eine Schü­ler­de­mons­tra­tion sein und alle Haupt­schu­len aus Kreuz­berg würden daran teil­neh­men. Ein Schü­ler aus der Nach­bar­klasse saß neben ihm und fing dann an zu erzäh­len: Es ist geplant, dass die Schü­ler einen Stern­marsch machen, aus fünf Schu­len zum Bezirks­amt. Insge­samt waren nämlich Lehrer aus drei Haupt­schu­len betrof­fen und es waren über­all die belieb­tes­ten. Wir soll­ten uns während der ersten Hofpause am Tor versam­meln. Die Schü­ler einer benach­bar­ten Schule würden mit ihrem Demo­zug bei uns vorbei­kom­men und abho­len, gemein­sam soll­ten wir dann zum Rathaus ziehen. Das hörte sich alles sehr aufre­gend an, auch wenn ich den Grund dafür nicht wirk­lich kapierte. Aber das war egal, immer­hin wink­ten Span­nung pur und einige Frei­stun­den.

An den ersten beiden Stun­den den nächs­tens Tages war an norma­len Unter­richt nicht zu denken. Alles redete durch­ein­an­der und unsere strenge Bio-Lehre­rin gab sich irgend­wann auch keine Mühe mehr. Mitten­drin stand sie aller­dings auf und sagte laut, dass wir uns keine Illu­sio­nen machen bräuch­ten: Wir dürf­ten die Schule erst nach dem offi­zi­el­len Schluss verlas­sen, die Demo sei für uns gestor­ben. Natür­lich haben wir das nicht ernst genom­men.
Am Morgen waren auch wieder Flug­blät­ter verteilt worden, dies­mal wurden sie sogar gele­sen. Alle wuss­ten, dass etwas passie­ren würde und so fieber­ten wir der großen Pause entge­gen.

Das erste was wir sahen, als wir auf den Hof hinaus kamen, waren die verschlos­se­nen Tore. Die Schul­lei­tung hatte die riesi­gen Gitter schlie­ßen lassen und mehrere Lehrer davor postiert. Drüber­klet­tern war nicht. Mehrere hundert Schü­ler stan­den auf dem Hof herum, unschlüs­sig, wie es weiter­ge­hen sollte. Einige disku­tier­ten mit den Lehrern am Tor und auch unser Klas­sen­leh­rer zeigte offen, dass er auf unse­rer Seite stand. Er schnauzte unse­ren alten Sport­leh­rer an: “Sie sind natür­lich wieder in der ersten Reihe dabei. Wie früher!” Erst Jahre später habe ich kapiert, was er damit gemeint hat.
Als das Klin­geln das Ende der Pause anzeigte, wuchs die Span­nung. Natür­lich woll­ten wir jetzt nicht brav in die Klas­sen gehen. Einige Stre­ber liefen zwar ins Haus, aber sie waren dort allein. Der Rektor rannte aufge­scheucht mit eini­gen Hiwis durch die Menge, schrie einzelne Schü­ler an, packte sie sogar am Arm. Sofort rief eine Schü­le­rin um Hilfe, erschro­cken ließ er sie wieder los. Eines war klar: Sie konn­ten uns zwar auf dem Hof einsper­ren, nicht aber in die Klas­sen­räume zwin­gen. Jetzt erst recht nicht.
Plötz­lich Poli­zei­si­re­nen, Blau­licht auf der Straße, Mann­schafts­wa­gen vor dem Schul­tor. Woll­ten sie uns jetzt etwa ins Haus prügeln lassen? Viele Leute beka­men Angst. Mein Freund, der eigent­lich immer sehr ängst­lich war und deswe­gen von vielen gehän­selt wurde, war auf einmal rich­tig mutig und schrie: “Ihr Arsch­lö­cher”. Er zitterte zwar wie verrückt, aber es war klar, dass er dies­mal nicht nach­ge­ben würde. Mir, aber auch eini­gen ande­ren gab sein Verhal­ten den Mut weiter­zu­ma­chen. Auch wenn wir nicht wuss­ten, wie das enden sollte. Natür­lich hatten wir alle Angst, verprü­gelt zu werden, die Bilder kann­ten wir ja aus dem Fern­se­hen. Aber dies­mal hatten sie uns in einen kollek­ti­ven Trotz getrie­ben, wir wuss­ten, dass ein Nach­ge­ben für uns noch lange Auswir­kun­gen haben würde.
Doch die Poli­zei war nicht nur wegen uns da. Sie war die Vorhut der Demo, die auf dem Weg zu unse­rer Schule war. Nach weni­gen Minu­ten hörten wir die Sprech­chöre. Die Poli­zis­ten stell­ten sich in einer Kette vor unse­rem Tor auf, so gut war der Schul­ein­gang wohl noch nie bewacht: Innen Lehrer, außen behelmte Poli­zis­ten. Wir sahen die Menge vor dem Tor anwach­sen und von drau­ßen riefen sie: “Tor auf! Tor auf! Tor auf!” Natür­lich stimm­ten wir sofort in den Sprech­chor ein, hunderte puber­täre Rufe, sie muss­ten uns wohl Kilo­me­ter weit hören. Es war ein herr­li­ches Gefühl der Stärke und des Zusam­men­halts.

Von den Lehrern und den meis­ten Schü­lern unbe­merkt hatten sich einige von uns in den hinters­ten Winkel des Schul­hofs zurück­ge­zo­gen. Dort stan­den die Müll­ton­nen und auch eini­ger Sperr­müll an einer Brand­mauer. Plötz­lich schrien sie “Feuer!” und “Hilfe!” und rann­ten von hinten nach vorn auf das Tor zu. Die meis­ten von uns erkann­ten die List sofort, nur die Lehrer nicht. Sie gerie­ten sofort in Panik, zumal die Flam­men und der Rauch schon gut zu sehen waren. Jetzt war das Löschen wich­ti­ger, die armen Schü­ler muss­ten in Sicher­heit gebracht werden. Inner­halb von Sekun­den war das Tor auf, auch die Poli­zis­ten gingen sofort zu Seite, wir stürm­ten auf die Straße. Frei!

Die Demons­tra­tion zum Rathaus war natür­lich auch sehr aufre­gend, zumal mehrere Schü­ler Spaß daran hatten, sich mit den Poli­zis­ten anzu­le­gen. Einmal kam es kurz zu einer Prüge­lei, bei der sie sogar ihre Knüp­pel einsetz­ten. Trotz­dem ging der Zug weiter und schließ­lich hiel­ten wir eine Kund­ge­bung vor dem Kreuz­ber­ger Rathaus ab. Damit war die Aktion been­det.
Ob die Demons­tra­tion gegen die Entlas­sun­gen erfolg­reich war, weiß ich nicht mehr. Für mich aber, und auch für viele meiner Mitschü­ler, hatte dieser Tag mehr bewirkt, es war der Anfang einer Poli­ti­sie­rung. Zwar wurden aus den Flug­blät­tern auch weiter­hin Flie­ger gebaut — ab diesem Tag wurden sie jedoch vorher gele­sen.

ANDI 80

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