Durch die Dircksenstraße

Gericht Littenstraße, 1959

In der Magazin­­­­straße bin ich stehen­­­geblieben. Die Renovierungs­arbeiten im “Druck­haus” dauern an. In Wirk­lich­keit sind es Verwandlungs­arbeiten. Berlin erhält eine neue Geschichte. Die Sanie­rungs-Archi­tek­ten denken viel­leicht, sie arbei­te­ten an der Gegen­wart. Ich lebe seit 1961 in Berlin; ich bin 61 Jahre alt. Die Zukunft verliert an Inter­esse für mich, und der Gegen­wart sehe ich schon an, dass sie Geschichte sein wird. Von Berlin kann man die Epochen seiner Geschichte ab- und herun­ter­schä­len wie von einer Zwie­bel die Häute. Die Maga­zin­straße, sagt man, hat diesen Namen nach einem “Heu- und Stroh­ma­ga­zin”, das man 1780 hier baute (dann müsste sie also eigent­lich Scheu­nen­straße heißen). Die Straße war nur ein Weg, er führte durch Gärten. Später war hier das enge, dunkle, lebhafte Arme-Leute-Berlin, das Berlin der volks­tüm­li­chen und poli­ti­schen Thea­ter, auch das Berlin, in dem Dr. David­sohn prak­ti­zierte, der Vater des armen Jakob van Hoddis, der das lustigste der klas­si­schen deut­schen Gedichte dieses Jahr­hun­derts geschrie­ben hat: “Dem Bürger fliegt vom spit­zen Kopf der Hut…”, seine Lands­leute, viel­leicht mancher dabei, der wie er aus der Singer­straße stammte, haben ihn umge­bracht in einem deut­schen Vernich­tungs­la­ger in Polen. Auch Dr. Döblin, der einen frühe­ren Alex­an­der­platz in die Welt­li­te­ra­tur versetzt hat, stammt aus dieser Zwie­bel­schale: “…das große nüch­terne Berlin, dieser Mutter­bo­den aller meiner Gedan­ken”. Vergan­gen, verges­sen. Jetzt wird gerade die Geschichte unter­ge­pflügt, in der ich meine Gegen­wart verbracht habe. Sanie­rung “West­ber­lins”, Sanie­rung der “Haupt­stadt der DDR”.

Mit solchen Gedan­ken gehe ich zur S‑Bahn hinüber. Die weit gestreckte Welle, auf der die S‑Bahn, ein S an das andere knüp­fend, auf ihrem eigen­ar­ti­gen “Bahn­kör­per” als halbe Hoch­bahn von Halen­see bis zum Haupt­bahn­hof [gemeint ist Ostbahn­hof] gelangt, ist mir eine stadt­ge­schicht­li­che Tröst­lich­keit. Sie reicht durch mehrere Berli­ner Geschichts-Epochen und ist trotz­dem noch Gegen­wart. Wenn ich an der Dirck­sen­straße entlang fahre und die Augen schließe, kann ich das Gefühl rekon­stru­ie­ren, das mein Groß­va­ter aus Kemberg in Sach­sen zu Beginn des [vori­gen] Jahr­hun­derts hier hatte, als er durch die Berli­ner Nacht S‑Bahn fuhr, nichts sah, aber an den Bewe­gun­gen des Zuges spürte: Das ist die Metro­pole. Die Dirck­sen­straße ist eine Einma­lig­keit, sie verläuft auf der Stra­ßen­erde wie die S‑Bahn mit ihrer halben Erhe­bung über unse­ren Köpfen. Sie hat ihren Namen nach dem Inge­nieur, der gleich nach dem euro­päi­schen Bruder­krieg von 1870/71 den Bau der Stadt­bahn planend leitete. Durch die Voltaire­straße komme ich hin; dort sitzt die Feuer­wehr, die — als ich eben den großen Aufklä­rer mit diesem Verkehrs­werk des Kapi­ta­lis­mus zu verbin­den versu­che — zwei notheu­lende grell­rote Wagen heraus­brau­sen lässt. Hat die Aufklä­rung Feuer gelöscht oder Feuer ange­facht? Die “Geschichte” hat erst dann “Sinn”, wenn alle tot sind, die sie als Gegen­wart erlebt haben. Auch dann liegt ihr “Sinn” besten­falls in Fragen. Der Park­platz, der mir nun rech­ter Hand liegt, eine der typi­schen Berli­ner Stadt­bra­chen, erstreckt sich über histo­ri­sches Gelände: Hier lag das große Berli­ner Poli­zei­prä­si­dium, in seinen Kellern ist gefol­tert worden, und in seinen präsi­dia­len Belle­ta­gen ist selten das Inter­esse des Volkes erwo­gen worden, das hinter der Trutz­burg versuchte, eine Gegen­wart hinzu­brin­gen, deren Geschichte nicht geschrie­ben wird.

Gegen­über steht eine andere Zwing­burg der Obrig­keit­lich­keit: das Gerichts­ge­bäude an der Litten­straße; Litten war ein Anti­fa­schist, ein Wider­stands­kämp­fer, wer weiß, ob viele die unter seiner Adresse die Para­gra­fen tanzen lassen noch wissen wollen, um wen es sich da handelte. Als das Oberste Gericht der DDR gerade ausge­zo­gen war, ging ich durch die leeren Räume und erin­nerte mich daran, dass ich 1968 die deut­sche Justiz hüben und drüben unter dem Titel beschrie­ben hatte: “Zwischen Freis­ler und Töplitz”, Töplitz — hier hat er geses­sen; wo Freis­ler geses­sen hat, habe ich auch gestan­den und war froh, dass ich nicht mehr Kammer­ge­richts­rat war. Auch die persön­li­che Geschichte besteht daraus, dass ein Irrtum an den ande­ren gereiht wird. Es ist besser , wir recht­fer­ti­gen uns und versu­chen, nichts zuzu­ge­ben.

Der Über­gang der Dirck­sen­straße über die Grun­er­straße muss durch einen klei­nen Umweg bewerk­stel­ligt werden. Gruner, der Namens­ge­ber der brei­ten Auto­straße, war am Anfang des 19. Jahr­hun­derts Poli­zei­prä­si­dent, wie der Herr von Kirch­ei­sen, nach dem die Große und die Kleine Präsi­den­ten­straße heißt am alten Bahn­hof “Börse”, wo mein heuti­ger Spazier­gang enden wird. Gibt es nicht zu viele Könige, Köni­gin­nen, Gene­räle, Präsi­den­ten in den Berli­ner Stra­ßen? “Sie star­ben für uns” steht auf dem Metall­schild, das auf der Verkehrs­in­sel inmit­ten der Grun­er­straße an die Opfer des Poli­zei­prä­si­di­ums erin­nert. Dass geschicht­li­che Opfer Sinn hätten, ist eine der gefähr­li­chen Illu­sio­nen der Lehr­pläne. Es lohnt sich nicht, sich in den Kellern der Präsi­dien foltern zu lassen; die Folter­knechte über­le­ben, und wenn man selbst über­lebt, muss man sich bei ihnen um eine Stelle bewer­ben.
Sie bemer­ken, liebe Lese­rin, lieber Leser, dass es da Zeit wurde für einen Kaffee und für andere Gedan­ken. Den Milch­kaf­fee bekam ich im “Alex­an­der­haus”. Für andere Gedan­ken musste ich noch bis ins Irish Pub unter dem Bahn­hof “Hacke­scher Markt” gehen. Immer weiter durch die Dirck­sen­straße.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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1 Kommentar

  1. Viiii­ieeelen Dank für Ihre Ausfüh­run­gen. Meine Lebens­ge­schichte wird auch täglich durch Neuge­stal­tung der Archi­tek­tur in Verges­sen­heit gebracht. Wir Menschen haben zwar eini­ger­ma­ßen grips bestim­men aber in dieser soge­nann­ten Frei­heit nichts — das ist wohl immer das nur durch Quan­ti­tät über­haupt einen Sinn brin­gende Geld für seine Quali­tät und die Verbin­dung zur Poli­tik, die unsere eigene Geschichte „ kennt“ .

    Es tut ziem­lich weh, wenn die Arbeits- und (Er)lebebsgebäude fast alle — nun Gott sei Dank ohne Krieg, also sehr mutwil­lig ‑zerstört und als Bauruine für die „ Geschichts­schrei­bung“ über unser Leben genutzt werden. Wir sind doch noch da, um Auskunft zu geben wenigs­tens über das eigene Leben!

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