Drüber und drunter

Von der U‑Bahn-Station Schön­hau­ser Allee zur U‑Bahn-Station Ebers­wal­der Straße über oder durch die Schön­hau­ser — einen typi­sche­ren Berlin-Weg gibt es nicht.
Die Attrak­tion liegt oben. Über dem Spazier­gän­ger­kopf donnert die U2, alle paar Minu­ten, in die eine oder in die andere Rich­tung. Dieses ziel­ge­rich­tete, rasch an- und abschwel­lende, sich manch­mal mit dem entge­gen kommen­den kreu­zende donnernde Rollen gibt einen erst­klas­si­gen Berlin-Ton. An ihm kann man Berlin in den Träu­men erken­nen. Nicht über­all auf der Schön­hau­ser Allee macht man die reine Erfah­rung dieses Charak­ter­to­nes. Der Spazier­weg, den man für den U2-Ton anschla­gen soll und den ich also heute empfehle, verläuft zwar über die Schön­hau­ser, hat aber ihr gegen­über seine eigene Origi­na­li­tät: Schön­hau­ser Allee und Nicht­schön­hau­ser Allee: der Zwei-Etagen­weg, einmal oben, einmal unten, einmal drin­nen, einmal drau­ßen.

Ich kam mit der S4. Wenn sie nicht außer­plan­mä­ßig am Ostkreuz Halt macht (wie heute), braucht man mit dieser Bahn vom Kudamm zur Schön­hau­ser vier­zig Minu­ten. Der S‑Bahnhof liegt unter der Straße, sozu­sa­gen in einem Graben. Ein Gang führt in die Stra­ßen­mitte, von der man gleich über die Metall­stu­fen aufwärts stei­gen kann zur U2, die seit Sene­fel­der­platz auf Stel­zen steht.
Diese zwei­bei­ni­gen Stel­zen sind indis­ku­ta­bel, durch Diskus­sio­nen über ihre Schön­heit nicht zu erschüt­tern, sie stehen fester als die Sprü­che Salo­mo­nis. Das hat Fried­rich Naumann gesagt, den nur noch die kennen, die ihn mit dem alten Michael Naumann verwech­seln, wenn sie den kennen.
Kurz hinter dem Witten­berg­platz ist die Bahn in ihrem beru­hi­gen­den Gelb aufge­taucht, über den Kopf eines wasser­lo­sen Neptun gestie­gen, ist ein erstes Mal durch und über eine wich­tige Stadt­straße gefah­ren, Bülow­straße, Nollen­dorf­platz, wo sie einst einen Bahn­hof erhal­ten hatte, der sich wie eine byzan­ti­ni­sche Synagoge hoch­kup­pelte.
Hinter Gleis­drei­eck schwingt sie sich — von Ringel­natz bedich­tet (und auch von Günter Grass) — nach Norden ab, umarmt die Post­mo­der­ni­tä­ten des Pots­da­mer Plat­zes, hält in einem protz­neuen Bahn­hof, ehe sie wieder abtaucht und die Aufmerk­sam­keit ganz auf sich selbst konzen­triert.

Kurz nach dem Sene­fel­der­platz kommt sie aus ihrer dunk­len Verein­sa­mung wieder heraus. Die U2 steigt ein zwei­tes Mal aus dem Unter­grund hervor. Steigt … ist eigent­lich nicht das rich­tige Wort. Dass sie herauf­saust, kann man auch nicht sagen. Es ist genau das rich­tige Tempo zwischen mühsa­mem Stei­gen und Aufmerk­sam­keit fordern­dem Rasen.
Am Schöns­ten ist es, wenn es Abend ist, die Häuser links und rechts erleuch­tet, man bildet sich ein, man könne hinein­se­hen, aber es geht zu schnell vorbei, man sieht die Lich­ter, manch­mal eine Lampe, einen Menschen, niemals die emotio­na­len Sensa­tio­nen, die man sich drau­ßen von jedem Innen vorstellt.
Das Gefühl der Erho­ben- und Erha­ben­heit ist aber eindeu­tig. Jetzt merkt man erst, dass man unten in der schwar­zen Röhre ausge­schlos­sen war. Dass einem die Augen zufal­len, das passiert einem unten, hier oben nicht. Auf den langen Bahn­stei­gen der beiden Bahn­höfe kann man auf und ab gehen, stehen­blei­ben und sich herüber- und hinüber­träu­men oder aufwärts blicken in das mittel­hohe, fast nied­rige, aber freund­lich geschwun­gene und in der Mitte aufge­spitzte Dach, über dem jetzt schon, kurz nach fünf, der Mond hervor­kommt, der uns in seiner dicken Fülle letzte Nacht nicht schla­fen ließ. Gren­an­der hieß der Archi­tekt, ein Spit­zen­mann, der baute hier (und anderswo) vor mehr als acht­zig Jahren an U- und S‑Bahn, was noch niemand gebaut hatte, ein Floß auf Stel­zen, umklei­dete ein Schwe­be­ge­fühl, das man hier jeder­zeit haben kann, wenn man über­haupt Lust auf Gefühle hat.

Meis­tens hat man keine Zeit dafür, ist einge­stie­gen, hat sich in die Zeitung vertieft, ist schon unten, ehe man gedacht hat: von diesem Gefühl würde ich träu­men, wenn ich irgendwo leben müsste, wo ich es nicht repro­du­zie­ren könnte.
Heute bleibe ich zunächst auf Stra­ßen­ni­veau, ich gehe von U‑Bahnhof Schön­hau­ser zum U‑Bahnhof Ebers­wal­der auf dem Mittel­strei­fen, er führt die ganze Zeit unter der U‑Bahn entlang, deren Unter­grund hier der Name eines Vorher und Danach ist, die Bahn ist Hoch­bahn. Die Schie­nen und die Bahn­steige bilden das Dach für den Weg, den Schirm für die Markt­stände, die Gemüse und Billig­kla­mot­ten, fettige Würste und Brat­hühn­chen und Hähn­chen anbie­ten, die die Glie­der­reste obszön sprei­zen.
Jetzt ist es fünf Uhr am Abend, Novem­ber, der Tag nimmt schon an der Nacht teil, der Markt ist zu Ende, der Mittel­strei­fen ist frei, wenige Menschen gehen hier entlang: hier unter den Bahn­glei­sen kann man das Gefühl entwi­ckeln, der Stra­ßen­lärm links und rechts ginge einen nichts an.
“Gehweg­schä­den” hat das Bezirks­amt ange­schrie­ben. Man muss ein biss­chen aufpas­sen, das helle Stra­ßen­licht ist von der U‑Bahn abge­dun­kelt, es ist fast zwie­lich­tig, die kräf­ti­gen Pfei­ler werfen mathe­ma­ti­sche Schat­ten. Oben auf der Schiene ist die Bahn ein Massen­ver­kehrs­mit­tel, hier unten eine rollende Melo­die. Nach­dem man ein Stück­chen gegan­gen ist, kann man unter­schei­den, in welche Rich­tung das Geräusch fährt.

Außer dem Ton über dem Kopf hat man den Blick vor den Augen. Fünf­zehn Schritte mache ich von Bogen zu Bogen, eine grün­ei­serne Pergola, die nach opti­schem Gesetz hinten zusam­men­läuft; dort scheint ein Eingang zu sein, eine Verhei­ßung, kann man sich einbil­den, wenn man sich selbst ein biss­chen aufmischt.
Diese Verhei­ßung erfüllt sich in einer Bewe­gung aus Fest­ste­hen­dem: in Höhe der Gneist­straße, die sich dunkel und schwarz anhebt, beschreibt die Bahn einen Bogen nach Osten. Das Lokal auf der linken Seite heißt Nirwana. In schnel­lem Schritt über­holt mich ein Paar, der Mann sagt: “Zehn Semes­ter hab ich erst­mal Jura studiert, dann hab ich’s hinge­schmis­sen und bin nach Berlin.”
Ein Rechts­pro­fes­sor wie ich denkt über einen solchen Satz sofort nach. Da bleibt ihm kein stadt­ver­klä­ren­des Gefühl übrig, ehe er zur Ebers­wal­der-Station hinauf gegan­gen und von dort hinun­ter gefah­ren ist. In fünf­zehn Minu­ten sind wir wieder oben.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Zufallstreffer

Erinnerungen

“Faschistische Arbeiterheere”

Es war die Zeit der großen sozia­len Bewe­gun­gen in der Bundes­re­pu­blik. Das West-Berlin der 80er Jahre war ein Schwer­punkt, Frie­dens­be­we­gung, Häuser­kampf, Frauen- und Schwu­len­be­we­gung, Arbeits­kämpfe. Jedes Jahr gab es Dutzende von Demons­tra­tio­nen, oft mit tausen­den […]

Berlin

Der Schlüssel zur Stadt

Zum Thema “unmensch­li­cher Umgang mit Obdach­lo­sen” habe ich ja erst vor eini­gen Tagen etwas geschrie­ben. Dass es auch anders geht, zeigt nicht nur der Bezirk Frie­d­richs­hain-Kreu­z­­berg, in dem das Obdach­lo­sen­la­ger an der Rummels­bur­ger Bucht vom […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*