Bundespräsident rückwärts

Der Bundes­prä­si­dent zieht endgül­tig um. Der Bundes­prä­si­dent macht seinen Zweit­ar­beits­sitz in Bonn zu.
Der Bundes­prä­si­dent ist jetzt nur noch in Belle­vue. Nebenan lassen sich seine Büro­kra­ten nieder in einem Ellip­so­iden, den wir haben wach­sen sehen seit Mona­ten. Jetzt ist er fast fertig. An diesem regne­ri­schen Novem­ber-Montag will ich mir angu­cken, was davon für einen Bürger zu sehen ist, der nicht über Dienst­aus­weise verfügt.
Ich fahre über Alto­naer Straße und Bart­nin­g­al­lee zur Spree. Die Spree und die Stadt­bahn, die die Schwin­gun­gen des Flus­ses kommen­tiert, das ist hier das Wesent­li­che, das Rück­grat der Stadt­ge­fühle.

An einem solchen Nach­mit­tag fühlt man sich aufge­ho­ben bei Buch­wald an der Ecke Bartningallee/Holsteinisches Ufer. “G. Buch­wald Hoflie­fe­rant”, Baum­ku­chen­fa­bri­ka­tion seit 1852; Ursula Kantel­berg heißt die Besit­ze­rin, auf den Diplo­men im Laden hat sie auch andere Namen, nach ande­ren Männern, vermute ich, ich weiß es nicht, die Unge­wiss­heit und die Namens­viel­falt passt zum unge­wis­sen, viel­fäl­ti­gen, nicht leicht zu verste­hen­den Moabit, das hier anfängt.
“Bestel­lung und Bezah­lung bitte am Büfett”, heißt es auf dem sorg­fäl­ti­gen Tisch­pla­kat. Bei Buch­wald ist nicht Groß­stadt. Aber Berlin. Das ist ein Unter­schied. Es ist der Unter­schied Fonta­nes. Er hat hier Baum­ku­chen gekauft. Nicht sehr weit von hier, bei “Geor­ges”, hat er 1850 seine Hoch­zeit gefei­ert.
Geor­ges ist weg, die Baum­ku­chen­kon­di­to­rei ist noch da. Es ist ein schö­ner Ort. Es wird geflüs­tert. Es ist nicht sehr hell. Eine gedämpfte Atmo­sphäre von beru­hi­gen­der Nicht­mo­der­ni­tät. Ein idea­ler Ort für verbo­tene Rendez­vous. Das Paar dort hinten viel­leicht? Ältere Leute zwar. Aber die Liebe hört ja nicht auf, sie bietet in jedem Alter unzu­läs­sige Vari­an­ten.
Buch­wald liegt nicht am Rande, jetzt rückt es fast ins Zentrum. Links hinten auf der ande­ren Spree­seite liegt Otto Schi­lys moder­nis­ti­sches Innen­mi­nis­te­rium, es sieht aus wie Orwell, 1984, mit Fens­tern, aus denen man heraus, durch die man aber nicht hinein­se­hen kann. Zum Bundes­prä­si­den­ten ist es über das auto­freie Belle­vue­u­fer nicht weit. Dort hinten liegt jetzt der Ellip­soid. Ich flüs­tere mir das Wort ein paar­mal vor, über sein sprach­li­ches Geschlecht bin ich mir unsi­cher. Ich empfinde diese Unsi­cher­heit als passend.
Das Ufer links heißt nach Holstein, das Ufer auf der ande­ren Spree­seite nach Helgo­land, die Brücke hinüber — wie der ganze Stadt­teil — nach Moabit. Diesen Weg nehme ich. Er führt mich ans Wasser und an die Stadt­bahn. Unter der Stadt­bahn gibt es hier Auto­re­pa­ra­tur- und Reifen­dienste, es gibt auch wohl noch freie Bögen, unter denen man sein eige­nes Geschäft betrei­ben könnte, wenn man eins hätte, das hier­her passt und das sich rech­net in dieser unprä­si­dia­len Gegend.

Die Vorder­front von Belle­vue ist gut zu sehen. Der Spree­weg, der mit der Luther­brü­cke über die Spree, an Belle­vue vorbei­führt, ist eine Feier­abend­straße, anzu­hal­ten — wenn man im Auto ist — ist schwer. Stehen­blei­bend unterm Schirm im Regen fällt man den Wäch­tern des Bundes­prä­si­den­ten auf. Ich weiß aber, dass die Grenz­schüt­zer, vor allem die Frauen, meist nette junge Leute sind. Heute haben sie dichte Capes an und blei­ben auch lieber in ihren Häus­chen.
Dass der Präsi­dent einer Demo­kra­tie in einem Schloss resi­diert, das ist für mich komisch. Es ist zum Lachen. In meiner idea­lis­ti­schen Jugend hätte ich viel­leicht gedacht: es ist zum Weinen; denn früher dachte ich: Häuser bedeu­ten etwas, aus den Häusern geht etwas über von ihrer Geschichte auf die, die drin­nen wirken. Das ist vorbei. Geschichte ist nichts. Sie braucht nicht bedacht zu werden.
Der Archi­tekt dieses Schlos­ses war ein Hollän­der. Der Bauherr war der jüngste Bruder jenes Kriegs­kö­nigs, den auch die aktu­el­len Bücher gerne den Großen nennen. Sein klei­ner Bruder ist der Vater von einem Kriegs­gott gewe­sen und hat zwei schöne Parks hinter­las­sen: den von Fried­richs­felde und diesen hier.
Der Belle­vue­park war ursprüng­lich viel schö­ner als er jetzt ist. Wer das Schloss von Innen kennt, weiß, dass es wenig taugt. Nur ein schö­nes Zimmer gibt es. Das ist von Lang­hans, der weiter hinten das berühmte Tor gebaut hat. In Glanz und Gloria wohnt der Bundes­prä­si­dent hier nicht. Die BRD protzt nicht. Auch dieses Schloss protzt nicht. Aber ein Bundes­prä­si­dent, der eigent­lich kaum andere Kompe­ten­zen hat als die, die er sich herbei­re­det, verliert viel an seiner bürger­li­chen Wirkung, wenn er sich mit einem Schloss umgibt, mit dem er nicht die kleinste Tradi­tion gemein­sam hat und haben darf. Es ist ja nicht das Schloss der Brüder Humboldt, das Schin­kel umge­baut hat. Einen Schin­kel­pa­vil­lon hat es hinten im Park gege­ben. Er ist weg.
Dane­ben liegt nun der Ellip­soid. Nach den Büchern ist er aus dunkel­grü­nem Granit. Er sieht aber schwarz aus. Er sieht aus wie ein Raum­fahr­zeug und gleich­zei­tig wie eine Giro­zen­trale. Die Archi­tek­ten heißen Gruber und Kleine-Kranen­berg und werden von den meis­ten ihrer Kolle­gen gelobt.
Vorne am Spree­weg stehen zwei Türhäu­ser, sie sind auch aus dem schwar­zen Granit. Die Schei­ben sind abge­dun­kelt. Erst erkenne ich gar nicht, dass eine blonde Frau drin sitzt, die mich aufmerk­sam mustert.
Die Schranke macht eine Art Muh, wenn sie hoch­geht. Zwei junge Leute kommen heraus, die ganz normal ausse­hen. Sie sind nicht aus einer ande­ren Welt. Sie besich­ti­gen die Planier­ar­bei­ten, die neben dem Ellip­so­iden, im Rücken von Moltke gesche­hen. Man muss wohl befürch­ten, dass das ein Park­platz werden soll.

Drei Kriege stehen im Rücken von Feld­mar­schall Moltke am Mäuer­chen, und allen diesen Krie­gen gegen­über wird er als “sieg­reich” bezeich­net. “Und trotz­dem ist er fast neun­zig gewor­den”, sagt Turi, der mich hier mit dem Auto erwar­tet und der unter­des­sen gerech­net hat.
Die über­leb­ten Mili­tärs und Bismarck mit einer ganzen Welt zu Füßen, die neben dem Ellip­so­iden stehen, was sagen sie denen, die den Bundes­prä­si­den­ten und seine Büro­kra­ten im Granit­denk­mal besu­chen?
Darauf gibt es keine Antwort. Außer: Die Geschichte ist vorbei. Mit Geschichte beschäf­tigt sich die BRD nicht. Moltke, Roon, Bismarck, das ist Atmo­sphäre, es soll ein biss­chen nach was ausse­hen. Ein Ellip­soid allein wäre zu modern, er braucht eine Umge­bung aus Schloss und Märchen.
Die beste Sicht auf den Ellip­so­iden und sein Staats­en­sem­ble hat man von der Sieges­säule, die mit den Kano­nen geschmückt ist, mit denen die Deut­schen die Öster­rei­cher, die Dänen und die Fran­zo­sen platt mach­ten. Doch glück­li­cher­weise wissen das die Menschen nicht.
Die Sieges­säule ist schön. Das Schloss des Bundes­prä­si­den­ten ist schön. Sie machen Stim­mung. Wie der Bundes­prä­si­dent meis­tens auch.
Für einen alten Mann wie mich ist der Aufstieg auf die Säule schon eine kleine körper­li­che Leis­tung. Aber lohnend. Sehr lohnend. “Wir werden alle in die Welt gevö­gelt, können aber trotz­dem nicht flie­gen”, ist innen ange­schrie­ben. Wir bestehen aus Wider­sprü­chen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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