Weiße Stadt, am Sonntag bewundert

Das Stadt­stück, das die “Schwei­zer” Stra­ßen: die Emmen­ta­ler und Aroser mit der Lindauer und der Resi­denz­straße bilden, liegt — da sind verschie­dene Bilder möglich, aber man sieht sie ja ohne­hin nur auf der Stadt­karte und nicht in der Spazier­gangs­wirk­lich­keit — auf dem Stadt­bild wie ein Kinder-Drachen, der im Ostwind empor­steigt. Oder wie das Segel einer Jolle, die der Wind übers Wasser fegt. Dass ich an Wind denke, ist, weil ich Wind spüre. Es ist ein windi­ger April­sonn­tag, der vorgibt, dass der Früh­ling noch weit sei. In Wirk­lich­keit ist der Früh­ling da. Die Forsy­thien, das wech­sel­blätt­rige Milz­kraut, die zarte Mistel, die an den Pappeln und Kiefern schma­rotzt, der Hahnen­fuß, das Früh­lings-­Fin­ger­kraut — alles da, in gelber Blüte zwischen dem viel­schat­ti­gen Grün, das sogar von den Stäm­men der Bäume kräf­tig leuchtet.So gut kenne ich die Gelb­blü­ten aber gar nicht; selbst meine Baum­kennt­nisse sind unzu­rei­chend, es ärgert mich, dass ich in der Schule meiner Mutter nicht gut genug aufge­passt habe, dass ich mit den rich­ti­gen Namen alle die Gelbs und Grüns benen­nen könnte, die in diesem April und über den Sommer hin und im Herbst — den wir doch auch alle noch erle­ben möch­ten — aus dieser “Weißen Stadt” genauso gut eine grüne oder eine gelbe Stadt machen.

70 Jahre unge­fähr ist diese Sied­lung, die nach dem frühe­ren Namen der Aroser Allee erst “Sied­lung Schil­ler­pro­me­nade”, aber nach­dem sie fertig war, bald “Weiße Stadt” genannt wurde, nun alt. Oder sogar älter, wenn man die Vorzeit der Planun­gen und Über­le­gun­gen mitrech­net. Schon 1913 gab es einen Wett­be­werb zur Bebau­ung der Gegend. Aber dann kam der erste Welt­krieg, dem auch die, die gar nichts von ihm hatten, als dass sie Blut und Leben dran­ge­ben muss­ten, nach­lie­fen, mit Blumen und Gesang. Die Repu­blik, die dann kam, fing selbst unter sozialdemo­kratischer Regie­rung mit Mord an, an denen, die recht gehabt hatten. Und es war ihr nur eine kurze Zeit der Hoff­nung gestat­tet. Hinden­burg, der Monar­chist, war bereits Präsi­dent der Repu­blik, und der letzte sozial­demokratische Kanz­ler vor Willy Brandt war schon zurück­ge­tre­ten, als hier die Weiße Stadt entstand. Die Hufei­sen­sied­lung in Neukölln, ein paar Jahre früher, und die Siemens­stadt in Spandau/Charlottenburg, entstan­den zur glei­chen Zeit: 1929 bis 1931: das sind die ande­ren beiden Haupt­bei­spiele für den denkwürdi­gen Wohnungs­bau der Weima­rer Repu­blik, es gibt noch viele klei­nere. Der SPD-Stadt­rat, auf den das alles zurück­führt, hieß Martin Wagner; enttäuscht über ihre Unent­schie­den­heit ist er aus der SPD ausge­tre­ten, noch ehe er vor den Nazis flüch­ten musste. Nach WK II war er Profes­sor in den USA, das zweite Nach­kriegs-Deutsch­land konnte ihn weni­ger gut gebrau­chen als die Hitler- und Speer-Jünger.

Sonn­tags­ge­dan­ken sind das nicht, sage ich mir, und verbanne sie aus meinen Vorstel­lun­gen, während ich nach den eindrucks­vol­len Eingangs­häu­sern, die die Weiße Stadt weiß und hoch an der Ecke Aroser Allee/ Emmen­ta­ler Straße begin­nen, in den Schil­ler­ring einge­bo­gen bin.

Die Häuser rech­ter Hand sind von Wilhelm Büning, die Häuser linker Hand mir den charak­te­ris­ti­schen Erker­vor­bau­ten vom Regie­rungs­bau­meis­ter Bruno Ahrends. Der berühm­teste Archi­tekt der Weißen Stadt ist aber Otto Rudolf Salvis­berg, der viel­fach im Berlin der Weima­rer Repu­blik Zeug­nisse seines Könnens und seiner sozia­len Gesin­nung hinter­las­sen hat. In Köpe­nick zum Beispiel, Sied­lung Elsen­grund, in der — kaum dass die Repu­blik von Weimar hin war — das furcht­bare Blut­bad ange­rich­tet wurde, die “Köpe­ni­cker Blut­woche”, von Nach­barn an Nach­barn; denn so ist es ja nicht, dass die Nazis von den Ster­nen gekom­men wären; gestern Kommu­nis­ten, heute Nazis — das gab es viel­fach; Gers­hom Scholem erzählt es vom Fischer­kiez, aber auch aus der Weißen Stadt gibt es Beispiele. Ich halte mich statt­des­sen an die Beispiele des Widerstan­des. Der Vorsit­zende der ille­ga­len Reini­cken­dor­fer SPD wohnte hier, Karl Schwarz. Und Ruth Oester­reich, die aus der Aroser Allee durch halb Europa vor den Nazis flüch­te­tet, bis die SS sie in Belgien doch fasste; am 25. Juni 1943 wurde sie auf Volks­ge­richts­hofs­ur­teil in Plöt­zen­see — so weit ist das nicht von hier — hingerich­tet: “Dein Bild schi­cke ich mit diesem Brief zurück”, schrieb sie wenige Stun­den vor dem Fall­beil an ihre Toch­ter, “mein letz­ter Kuss liegt darauf und eine Linden­blüte, die ich heute aufge­le­sen habe, nach­dem ich so lange keinen Baum gese­hen habe”.
Die Linden blühen noch nicht. Das Grün der Weißen Stadt verbirgt die Archi­tek­tur. Der Garten­ar­chi­tekt hieß Ludwig Lesser. Seine Pläne sind aufge­gan­gen, im wörtlich­sten, natür­lichs­ten Sinne.

Die Emmen­ta­ler Straße, in die ich aus dem Schiller­ring jetzt einbiege, hieß Berner Straße, als Salvis­berg hier baute; das wird ihn gefreut haben, denn Bern — das war seine Geburts­stadt, und er war damals auch über­haupt — als Profes­sor nach Zürich — schon wieder in die Schweiz zurück­ge­kehrt; die Zeit, in der er ein großes rotes JA zur sozia­len Repu­blik geru­fen hatte mit Bruno Taut und Walter Gropius im “Arbeits­rat für Kunst” war zu Ende: die Weiße Stadt ist ein Spät­werk … Ach nein, sage ich mir, während ich nun durch die Genfer Straße gehe, an der die Schul­an­la­gen, die Salvis­berg hier geplant harte, nicht gebaut worden sind, ach nein, Spät­werk — das kann man nicht sagen: das klingt nach Adieu und Miss­lin­gen. Aber diese Bauten hier sind nicht miss­lun­gen; das ganze Vorha­ben nicht. Man kann seine Geschichte ruhig verges­sen oder gar nicht erst zur Kennt­nis nehmen. Die Häuser halten die Gegen­wart aus. Die nörd­li­che Uhr am berühm­ten Lauben­gang­haus, das die Aroser Allee mir der Aroser Allee verbin­det, zeigt eine falsche Zeit.
“Kann ich Ihnen helfen?”, fragt im Romans­hor­ner Weg von ihrem Balkon eine freund­li­che Frau, als ich einen Eingang suche, um den Innen­hof zu bewun­dern zwischen Salvis­bergs Bauten, der eher ein Innen­park ist.
“Nein­nein, ich will bloss die berühm­ten Häuser bewun­dern”.
“Na, denn mal zu! Denn bewun­dern Sie mal!”

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Frido­lin freu­den­fett / CC BY-SA 4.0

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