Sommer vorm Balkon

Die kürzeste Nacht, der längste Tag des Jahres, Sommer­an­fang. Aber hier auf meinem Balkon, morgens um Vier, merke ich vom Sommer nicht viel. Vor einer Stunde noch war ich auf der Straße, es nieselte und über mein T‑Shirt hatte ich längst einen Kapu­zen­pulli gezo­gen. Zwar behaup­tete das Außen­ter­mo­me­ter des Taxis, dass es 15 Grad waren, aber ich glaubte ihm nicht.

Die Straße ist noch nass, jeden­falls am Rand, viel­leicht hindern die Autos den Wind daran, sie zu trock­nen. Obwohl ich mitten in der Stadt bin, höre ich keinen Auto­lärm, das bestim­mende Geräusch den ganzen Tag über. Aber die Vögel in der großen Linde vor dem Haus, die hört man gut. Sie unter­hal­ten sich im Dutzend und nach ein paar Minu­ten flie­gen sie gemein­sam und im Pulk über’s Dach auf den Baum hinter dem Haus. Dort wecken sie wahr­schein­lich ihre Kumpels, nach ein paar Minu­ten kommen sie wieder zurück.

Die Straße ist eigent­lich nicht beson­ders breit, weil aber die 50er-Jahre-Häuser ein paar Meter zurück versetzt stehen, wäre genug Platz für eine sechs­spu­rige Straße. Hoffent­lich kommt niemand auf die Idee. In der Dunkel­heit stehen die Peit­schen­mas­ten, ihre Lich­ter sind wir Narben in der Dunkel­heit.
Die Linde und ihre Nach­ba­rin, die Birke, haben bereits die Höhe unse­rer fünf­stö­cki­gen Häuser erreicht. Ihr tief­grü­nes, volles Blatt­werk verbirgt den Blick auf das gegen­über stehende Haus, jeden­falls zur Hälfte. Drüben geht gerade das Licht im Trep­pen­haus, ich sehe einen Mann mit schwar­zer Haut­farbe bis ganz nach oben laufen. Er bringt die Abon­nen­ten­zei­tung an die Wohnungs­tür, ob ihm die viele Lauf­ar­beit gedankt wird? Als er wieder unten ist höre ich das Bollern seiner Karre. Vor eini­gen Jahr­zehn­ten habe ich das glei­che gemacht, mitten in der Nacht ande­ren Menschen ihre Zeitun­gen nach Hause gebracht. Ich vermisse es nicht.
Ein mittel­al­tes Paar läuft schwat­zend und schnel­les Schrit­tes unten am Haus vorbei. Ich sehe sie nicht, aber ihre Stim­men lassen ein Bild vor meinen Augen entste­hen, viel­leicht kenne ich sie sogar vom Sehen. Mitt­ler­weile wohne ich fast zwei Jahre hier, aufmerk­same Leser können sich noch an mein Klagen erin­nern, als ich aus meiner klei­nen WG hier her gezo­gen bin.

Inner­halb weni­ger Minu­ten färbt sich der Himmel von Dunkel- auf Hell­grau. In der kürzes­ten Nacht des Jahres bleibt ihm auch nicht so viel Zeit für seine Farb­spiele.
Plötz­lich zucken­des Blau­licht an derWand gegen­über, schnell wandert es weiter, der Poli­zei­wa­gen­fah­rer drückt rich­tig auf’s Gas, wenigs­tens lässt er die Sirene aus.
Und wieder ein Auto, ein Taxi, es stoppt am Neben­haus. Als das junge Pärchen die Tür öffnet, höre ich laute türki­sche Jammer­mu­sik. Ob die wohl die ganze Zeit lief? Laut lachend gehen die beiden ins Haus, und während das Taxi wieder los fährt und seine Fackel anschal­tet, schiebt sich ein Hauch von Hell­blau in den Himmel.
Die Straße färbt sich wieder dunk­ler, es regnet, kein Sommer­wet­ter. Eine Frau fährt mit dem Fahr­rad vorbei, sie hat einen Regen­schirm aufge­spannt. Morgens schon im Regen zur Arbeit, so macht der Tages­be­ginn bestimmt keinen Spaß.
Im Haus gegen­über gehen in einer Wohnung sämt­li­che Lich­ter an. Ein Mann öffnet das Fens­ter, legt ein Kissen auf das nasse Fens­ter­brett und kuckt heraus. Er wundert sich bestimmt über den Typen auf nder ande­ren Stra­ßen­seite, der in der Nacht auf dem Balkon sitzt und schreibt.
Wenn ich bei meinem Haus nach unten schaue, sehe ich dass es geflaggt ist wie einst zum 1. Mai in der DDR. Nur dass heute Hammer und Zirkel fehlen und Leute das Zeug frei­wil­lig raus­hän­gen.

Dann ist es wieder ein paar Minu­ten still. Ein Mann mit schwar­zen Klamot­ten und Ziga­rette im Mund geht die Straße entlangt. Seine Schul­tern sind hoch­ge­zo­gen, den Kopf hält er nach unten, so dass nicht viel aus dem Kragen heraus schaut. Aber das Wasser kommt ja von oben, da nützt es nichts, den Kopf nach unten zu ziehen. Und als er an seiner Ziga­rette zieht, muss er ihn eh wieder raus holen.
Hundert Meter weiter steht eine alte Kirche. Mittags und am Wochen­ende rufen ihre Glocken verzwei­feln nach den Gläu­bi­gen, aber es sind nicht viele, die sie erhö­ren. Die meis­ten sind eher genervt von dem Krach. Jetzt aber lässt sie nur ein kurzen Klong hören, sie sagt mir damit, dass es halb Fünf ist und lang­sam mal Zeit, ins Bett zu gehen. Vorher muss ich aber noch diesen Text hier abtip­pen.
Während­des­sen ist der Himmel weiter aufge­hellt, eine große, hell­graue Fläche mit kaum sicht­ba­ren, dunk­le­ren Regen­wol­ken darauf. Die Vögel werden lauter und ich schließe mit dieser Nacht meinen Tag ab. Und wenn ich am Nach­mit­tag wieder aufstehe, ist es Sommer!

print

Zufallstreffer

Internet

Freie Daten für alle

In Schwe­den ist es bereits Reali­tät, dass jeder persön­li­che Daten seiner Mitbür­ger im Inter­net einse­hen darf. Melde­adres­sen, laufende Kredite, Krank­hei­ten oder Verur­tei­lun­gen — alles ist öffent­lich. Zwar ist in Deutsch­land noch der Daten­schutz davor, aber […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*